Lassen sich die meisten elektronischen Musikproduktionen gut klassifizieren, gibt es seit jeher welche, die Hilflosigkeit hervorrufen, wenn Kataloge befüllt oder Metadaten verwaltet werden müssen. Es sind die klanglichen Werke, die sich ganz im Sinne des Eklektizismus bei mehreren Stilen, Ideologien und früheren Epochen bedienen. Um daraus wiederum etwas Neues zu erschaffen. Man findet sie heute unter Bezeichnern wie „Electronica”, „Abstract” oder IDM (Intelligent Dance Music). Wobei der Begriff „intelligente Tanzmusik” eigentlich Banane ist – ist es ja gerade die Art von elektronischer Musik, die weniger für die Tanzfläche erschaffen wurde. Auch drängt sich die Frage auf, ob mit „intelligent” die Musik an sich, der Produzent – oder vielleicht sogar die Hörer gemeint sind? Wie auch immer. Da ich kein Freund von Schubladen bin, aber durch und durch pragmatisch, belasse ich es bei IDM und widme mich den Exoten damaliger elektronischer Tanzmusik, die weniger zum kollektiven Rumzappeln animierten. Dafür den Geist ansprachen. Und daneben vielleicht noch heute die eine oder andere unerwartete Wirkung mit sich bringen.
Dass Musik nicht nur eine chronologische Aneinanderreihung von Tönen ist, sondern wirkt, erzählt mir auch meine Krankenkasse in regelmäßigen Newslettern: „Wussten Sie? Musik ist gesund!” Neben anderen Küchenweisheiten, wie dass man im Urlaub die Sonnencreme mitnimmt – oder zu viel Schnaps eben nicht gesund ist. Wobei man als Privatversicherter ahnt, dass solche „Tipps” primär deshalb verschickt werden, damit man so wenige Rechnungen wie möglich einreicht. Nun ja, Musik wirkt also. Sogar auf mehreren Ebenen. Und mit jener Art von elektronischer Musik, die Ende der Achtziger populär wurde, rückte eine fast vergessene Wirkung wieder in den Vordergrund. Das repetitive Arrangement, das bereits zu Urzeiten bei Schamanengesängen und Stammestänzen die Teilnehmer in tranceartige Zustände versetzte, war im späten zwanzigsten Jahrhundert wieder Neuland – wenn man von Randerscheinungen wie „Krautrock” mal absieht. Und es lag auf der Hand, dass Techno und Trance polarisieren werden. Waren die meisten daran gewöhnt, Musik auf die gängige Art wahrzunehmen. Und nicht, um sich durch wiederkehrendes „Bumm Bumm”, wo sich einzelne Parameter nur minimal ändern, rauschartig in andere Bewusstseinszustände hineinzutanzen.
Dass der ekstatische Aspekt nur eine Seite der Medaille elektronischer Musik ist, zeigten bereits früh Produzenten, die sich entweder auf Ambient konzentrierten, wo treibende Beats keine große Rolle spielen. Oder das Grundgerüst elektronischer Tanzmusik aufbrachen, um einzelne Elemente zu entfremden und zu ersetzen. Manchmal sogar gleich mehrere Stile zu einem neuen Strang fusionierten, so dass etwas Neues herauskam, das man erstmal schwer irgendwo einordnen konnte. Ein gutes Beispiel ist µ-ziq (Mike Paradinas), dessen Debütalbum „Tango N‘ Vectif” (1993) nichts war, was ein DJ damals für die Tanzfläche aufgelegt hätte, damit irgendeine Koksnase darauf abfeiert. Die komplexen Klangstrukturen an heraushörbaren Epochen und Einflüssen wären höchstens etwas für die Afterhour gewesen, wo man paralysiert mit Tüte in der Hand irgendwo liegt und den Geist tanzen lässt. Daneben gab es noch das Duo „Autechre” – mit experimentellen Zügen und Einflüssen aus Electro und Hip-Hop – sowie Richard D. James, der als „Aphex Twin” immer dann auftaucht, wenn von IDM oder „hirnverknotetem Electronica” die Rede ist.
Auch wenn diese Acts gern als „Electronica” gelistet werden, so gilt das Kommutativgesetz hier nicht. Heißt, wenn man unter Electronica stöbert, landet man beim nächsten Track nicht zwangsläufig wieder bei dem Sound, den man nun erwarten würde. Das beruht darauf, dass Electronica irgendwann als Krücke definiert wurde. Quasi als Sammelbecken für alles, was sonst nur schwer irgendwo reinpasst. Denn auch wenn die meisten elektronischen Genres irgendwann aus Fusion anderer Stile entstanden sind (beste Beispiele sind „UK Hardcore” und „Big Beat”), kann schlecht für jedes Experiment und jede Abwandlung gleich ein neues Genre erschaffen werden. Der Witz ist aber, dass man als Konsument eine gewisse Erwartungshaltung mitbringt: Wenn Techno draufsteht, erwartet man auch Techno. Was in den meisten Fällen dann auch so kommt. Ob die Platte gefällt, steht natürlich auf einem anderen Papier. Bei „Electronica” hingegen kann so ziemlich alles herauskommen. So wie beim Öffnen der Büchse der Pandora. Und bei einigen Tracks wünscht man sich tatsächlich, man hätte das verfluchte Ding besser geschlossen gelassen.
Handvoll „eklektische” Tracks, in die man mal reingehört haben sollte
Die Fusion mehrerer gleichwertiger Stile zu etwas Neuem, so wie es Autechre, Aphex Twin und andere praktiziert haben, trifft das, was eingangs mit dem Begriff „Eklektizismus” verknüpft wurde, nicht ganz. Wenn ich so meine Plattensammlung begutachte, hat es mich eigentlich schon immer zu den Tracks hingezogen, die zwar einem bestimmten Genre angehören, aber dennoch aus der Rolle fallen. Wo ein Grundmuster erkennbar ist, aber durch den geschickten Aufbruch der Regeln an bestimmten Stellen nicht gleich ein neues Genre entstanden wäre. Das sind dann meist die Tracks, die einen Mix aufwerten können. Sofern man sparsam damit umgeht. Quasi das eklektische Salz in der Suppe. Nur sind solche Tracks leider recht selten und mehr Ausnahme als Regel. Um das zu veranschaulichen, habe aus meiner Sammlung (mit Bedacht und weißen Handschuhen) zehn Beispiele herausgefischt, wo das Gesagte ganz gut zutreffen sollte. Neben Techno als Grundmuster, finden sich dort auch Elemente von Ambient, Industrial, Detroit Techno und Tribal. Und auch einige Klangmuster, die an längst vergangene Epochen erinnern.
- Ken Ishii – Pneuma [R & S 1993]
- 3MB – Illuminism [Tresor 1992]
- X-102 – Mimas [Tresor 1992]
- The Naturists – Mission Impossible [Interactive 1993]
- The Martian – Sex in Zero Gravity [Red Planet 1993]
- As One – Asa Nisi Masa [New Electronica 1994]
- Kenny Larkin – Chasers [Distance 1995]
- Link – Animus [Evolution 1992]
- Holographic Hallucination – Broad Daylight [Holographic 1994]
- Centipede Experimental Sequences – Reinforcement For The Big Crusade [CES 1994]
Daneben noch zwei Beispiele, die mehr aus der Rolle fallen. Einmal Cem Oral (bekannt durch „Air Liquide” und „Ultrahigh”), der als „Oral Experience” das Stück „Never Been On E” (Mono Tone, 1992) herausgehauen hat. Mal davon abgesehen, dass die Kombination aus Name, Pseudonym und Titel schon ein Knaller ist, erwartet einen ein TR-808 Grundgerüst, das zunehmend um hypnotische Synth-Pattern angereichert wird. Die klingen, als wären sie von uralten Synth-Flagschiffen der Siebziger generiert. Und zuletzt noch etwas, das auch Timothy Leary, Allen Ginsberg und John Lilly als Soundtrack zu einer ihrer psychedelischen Sessions aus dem Äther gezogen hätten – „Ocean Reflection” von Sandoz (New Electronica, 1994). Den Anfang macht das Sample „Waves of energy that excite the eye.” von Dr. Xavier aus „Der Mann mit den Röntgenaugen”. Lustige Randnotiz: Die schweizer Firma Sandoz brachte 1949 unter dem Namen „Delysid” natürlich LSD auf den Markt. Dabei verbirgt sich hier hinter „Sandoz” niemand geringerer als Richard H. Kirk (1956 – 2021), der bereits in den Siebzigern mit der Band „Cabaret Voltaire” eine Symbiose aus Punk, Industrial und elektronischen Klängen erschuf, die der damligen Zeit um Jahre voraus war.
… In the Mix! – Retrogressive Sessions 2023.23
Passend zum Thema, und zum 10-jährigen Jubiläum von „Retrogressive Sessions”, der zugehörige Mix. Vor genau zehn Jahren ging die erste Ausgabe an den Start. Anfangs noch mit Fokus auf Clubhits zwischen 1993 und 1995, später dann überwiegend älteres und unbekannteres Material. Zuletzt beschränkte ich die Serie auf einen Mix pro Jahr. Und war am überlegen, ob für dieses Jahr nochmal eine weitere Ausgabe folgen sollte. Oder es langsam an der Zeit ist, die Serie an den Nagel zu hängen. Nach 22 regulären Ausgaben, fünf Sonderausgaben und zwei Best-of-Mixen hätte der Sack eigentlich zugemacht werden können. Zumal Mixcloud als inzwischen kostenpflichtiger Hoster für mich nicht mehr infrage kommt. Aber wie heißt es nicht nur beim Saufen: „Komm, einer geht noch!” Also gut. Immerhin eine gute Gelegenheit, ein paar Exoten meiner Tonträgersammlung mal wieder in einem neuen Mix zu vereinen. Der neben der Folklore E.P. auch das einzige musikalische Erzeugnis ist, das ich in diesem Jahr veröffentlicht habe. Der rote Faden heißt Electro der Neunziger – aufgebrochen mit etwas Techno, Ambient und Breakbeat. Und das ab sofort und künftig bei YouTube gehostet. Also ab „in the mix“!
- Infiniti – Moon Beam [Tresor 1996]
- Drax – Middle Earth [Trope 1993]
- Brunchbox – Here Is [Raw Elements 1995]
- Kenny Larkin – Java [Distance 1995]
- Speedy J – R2 D2 [Warp 1993]
- Alpha State – Closed Circuit [Raw Elements 1996]
- Dopplereffekt – Cellularphone [Dataphysix 1995]
- Cybotron – Clear [Fantasy 1983]
- Scan X – Grey Lights [F Communications 1996]
- R-Damski – Project Part One [Overdrive 1995]
- Barada – Detach [Definitive 1996]
- Luke Slater – Are You There [NovaMute 1997] (leider durch YT stummgeschaltet wg. Urheberrecht)
- LFO – Tied Up (Electro) [Warp 1994]
- Dave Clarke – Zeno Xero [Bush 1994]
- B.C. – Stronghold [i.t.p. 1994]
Eklekti… was? – Zungenbrecher als uraltes Schaffensprinzip
Der holprig auszusprechende Begriff Eklektizismus (vom altgriechischen eklektós, „auserlesen”) kommt ursprünglich aus dem Architektur- und Philosophiekosmos. Und bezeichnet die Handlungsweise, Komponenten aus unterschiedlichen Systemen zu einer neuen Einheit zusammenzufügen. Das gab es bereits in der Antike. Wo sich ähnlich wie heute ein ganzer Zoo an philosophischen Systemen tummelte. Geschlossene Gebilde mit eigenen, meist dogmatischen Regeln, die konserviert und gelehrt wurden. Nur gab es aber immer wieder welche, die sich nicht (oder nur teilweise) an die Regeln hielten. Marcus Tullius Cicero war einer von der Sorte, der Elemente der Stoa und die Lehren Platons an die lateinischsprachige Welt angepasst hat. Später wurde in der Architektur der Begriff wieder aufgegriffen, wenn in Bauwerken Elemente frühere Epochen zitiert wurden. Was besonders im Historismus ein verbreitetes Phänomen war. Heute ist der Begriff Eklektizismus seltener geworden. Taucht höchstens mal wieder auf, wenn Käseblätter von moderner Inneneinrichtung und „buntem Stilmix” faseln. Wo geschmacklich keine Regeln gelten. Genau genommen wird hier aber kein Eklektizismus verkauft, sondern eher das Gegenteil des Minimalismus. Man könnte auch sagen, der passende Leitfaden, wie man sich seine eigene Messie-Wohnung einrichtet.
Ein Eklektiker aber ist ein jeder, der aus dem, was ihn umgibt, aus dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was seiner Natur gemäß ist.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Denn nicht jedes Sammelsurium, das sich wahllos bei verschiedenen Systemen bedient, ist automatisch eklektisch. Zu viele Zitate in der Architektur erinnern schnell an Dubai oder Disneyland. Den indischen Schnellimbiss, der neben Hähnchen-Curry auch Currywurst anbietet, kann man auch nicht gerade als kulinarisch eklektisch bezeichnen. Und wenn ein Sci-Fi- und Schund-Autor in der Glaubensabteilung wühlt, um sich daraus seinen eigenen Religionseintopf zu kochen, sogar eine eigene Kirche (mit Anwälten als Inquisitoren) gründet, fällt das auch eher in den Bereich Realsatire. Eklektizismus ist also mehr als nur zusammenkippen und umrühren. So liest man, dass zum eklektischen Erzeugnis immer eine eigene künstlerische Leistung dazugehört. Wobei die Leistung hier weniger beim künstlerischen Schaffensprinzip (etwas Neues erschaffen) liegen sollte, sondern mehr in der durchdachten Vereinigung der Elemente zu einem harmonischen Ganzen. Kurz gesagt, der rote Faden der Fusion. Und wenn dieser fehlt, kommt als Ergebnis irgendein Gulasch heraus. Das vielleicht ein paar originelle Züge hat, aber in den seltensten Fällen praxistauglich ist.
Fazit – Eklektizismus als Rezept gegen geistigen Durchfall
Zugegeben, Eklektizismus und elektronische Musik zusammenzurühren erfordert schon eine gewisse Kühnheit. Die man sich auch gönnen sollte, wenn keine Alternativen greifbar sind. Denn seien wir ehrlich – „eklektisch” ist kein Wort, das sich irgendwann wieder durchsetzen wird. Zumal die sprachliche Wurzel „auserlesen” kaum das trifft, wofür es verwendet werden müsste. Und von „Eklektikern” wollen wir gar nicht erst anfangen. Da denkt doch jeder Dussel, dass gleich einer mit Spannungsprüfer und Isolierzange aufkreuzt. Dabei könnte ein wenig Eklektizismus diesem Zeitgeist ganz gut tun. Schaut man sich die letzten Jahre an, fällt auf, wie unangenehm polarisierend vieles doch geworden ist. Und hier käme eine gut gedrückte Nadel „Eklektizismus” als Impfung gegen geistigen Verfall ins Spiel. Als Erinnerung, den eigenen roten Faden zu pflegen. Ohne das Rad gleich neu zu erfinden. Heißt, nicht stumpf alles anzunehmen oder abzulehnen, weil man sich über ein Kollektiv definiert. Die hohe Kunst ist es ja, dort nach den Regeln zu spielen, wo sie angemessen sind – und sie dort zu brechen, wo eigene besser funktionieren. Oder um den alten Paulus zu zitieren: „Prüft alles und behaltet das Gute!”Alles andere hieße, den Verstand an der Garderobe abzugeben – bevor die große Theaterbühne mal wieder zum kollektiven Rumzappeln betreten wird.
Schreibe einen Kommentar